Assessment Center: Ein unverzichtbares Instrument in Zeiten des Fachkräftemangels?

In der Fachwelt wird die Wirksamkeit von Assessment Centern (AC) schon lange kontrovers diskutiert. Oft wird in diesem Zusammenhang auf die Metaanalyse von Schmidt und Hunter aus dem Jahr 1998 referenziert. In dieser wird dem AC kein deutlicher Erkenntniszugewinn gegenüber anderen Auswahlinstrumenten, wie z. B. einem strukturierten Interview zugesprochen. Auch die Verfasser einer neueren Metaanalyse Sackett et al. (2021)1 stellen dem AC in puncto Validität kein besseres Zeugnis aus.

Des Weiteren nehmen wir einen sich deutlich verändernden Arbeitsmarkt wahr. Unternehmen „kämpfen“ im War for Talent um die fähigsten Mitarbeitenden. Gut ausgebildete Kandidat:innen wiederum können sich ihren Arbeitgeber aussuchen.2 Ein anspruchsvolles Auswahlverfahren wie ein AC verlangt den Bewerbenden Engagement und Leistungsbereitschaft ab und könnte eine Hürde für Kandidat:innen darstellen, sich zu bewerben bzw. die Bewerbung weiter zu verfolgen.

 

Passt ein aufwändiges Auswahlverfahren, wie ein AC also noch in unsere Zeit?

Warum nicht einfach darauf verzichten? Und warum beobachten wir keinen Rückgang von AC zur Auswahl von (Nachwuchs-)Talenten, sondern ganz im Gegenteil: einen Anstieg?3

Darauf möchten wir folgende Antworten geben:

  • AC - Das Beste aus mehreren Welten: Insgesamt sind AC als Auswahlinstrument aufgrund ihrer Heterogenität schwer vergleichbar. In den oben genannten Studien wird das AC als reine Verhaltensbeobachtung definiert, enthält also nur einen Ausschnitt von dem, was wir als AC bezeichnen. Wir verstehen das AC, wie in der DIN 33430 (Anforderungen an berufsbezogene Eignungsdiagnostik) beschrieben, als „ein Verfahrens-Mix“4, welcher verschiedene Verfahrenskategorien bzw. -typen zur Personalauswahl beinhaltet. Dazu gehören nach unserem Verständnis neben Rollensimulationen (z.B. Mitarbeitergespräch), auch strukturierte Interviews und Fallstudien, bei denen komplexe Fragestellungen mit Bezug zur Arbeitswelt bearbeitet und anschließend präsentiert werden. Außerdem kann ein Test zur Ermittlung von kognitiven Fähigkeiten das Bild über die Bewerbenden abrunden.5 Durch dieses multimodale Vorgehen, mind. 3 Verfahrenstypen sollten in einem AC Anwendung finden, werden etablierte, valide Verfahren6 miteinander kombiniert und somit wird ein fundiertes, aussagekräftiges Bild über die Bewerbenden möglich.

  • Klasse statt Masse - Fokus auf überfachliche Kompetenzen und Potenzial: AC werden in der Regel zur Besetzung von (Nachwuchs-)Führungspositionen eingesetzt. Dabei geht es um die Ermittlung von überfachlichen Fähigkeiten (u. a. soziale Kompetenzen), die mit anderen Auswahlinstrumenten schwieriger oder gar nicht untersucht werden können. So kann mit einem Intelligenztest kein Sozialverhalten ermittelt werden. Aufgrund des angesprochenen „War for Talents“ sind nicht immer die „perfekten“ Kandidaten am Markt verfügbar. Mithilfe eines ACs kann ein umfassendes Bild über eine/n Kandidat:in gewonnen und Potenziale sowie Entwicklungsfelder aufgezeigt werden. So kann unter einer geringen Auswahl an Kandidat:innen trotzdem eine fundierte Entscheidung getroffen werden. Dies hebt auch Prof. Kanning, Professor für Wirtschaftspsychologie an der Hochschule Osnabrück, in seiner Auseinandersetzung mit den „9 HR-Mythen“ hervor: „Je geringer die Qualität des Bewerbungspools, desto valider muss das Auswahlverfahren sein“.7 Außerdem kann bei Kandidat:innen, die noch nicht alle Voraussetzungen erfüllen, ein gezielter Entwicklungsplan abgeleitet werden, um diese auf eine Zielfunktion zu entwickeln.

  • Objektivität, Fairness und Rechtssicherheit: Ein AC wird bzw. sollte immer mit einem klaren Anforderungsbezug konzipiert werden, d.h. es werden nur Eignungsmerkmale untersucht, die für eine erfolgreiche Ausübung der Zielfunktion relevant sind. Durch definierte Entscheidungskriterien, die sich in einer verhaltensverankerten Beurteilungsskala8 wiederfinden, wird eine größtmögliche Objektivität bei der Beurteilung erreicht. Zusätzlich sollten in einem AC nur geschulte Beobachtende zum Einsatz kommen. Dadurch werden Beurteilungsfehler, sogenannte „Biases“, vermieden, die zu verzerrten oder sogar diskriminierenden Ergebnissen führen können. Daher ist ein professionell durchgeführtes AC in der Regel auch juristisch als gerechtes und diskriminierungsfreies Auswahlverfahren anerkannt.9 Prof. Kanning formuliert dies besonders drastisch: „Wer in der Personalauswahl primär auf die eigene Menschenkenntnis vertraut, schädigt seinen Arbeitgeber.“10

  • Candidate Experience/Employer Branding: aus den oben genannten Gründen werden AC auch von Kandidat:innen als fair erlebt und zählen zu den akzeptiertesten Auswahlverfahren. Durch die spezifische Gestaltung von Übungen können neben aktuellen Themen (z. B. Thema KI in der Fallstudie / Interview) zudem auch kulturelle Gepflogenheiten (z. B. in Bezug auf Kleidung und Kommunikationsstil) transportiert werden und ein umfassenderes Verständnis der Organisation vermittelt werden. Dies fördert eine optimale kulturelle Passung von Kandidat:in und Organisation. Das AC kann eine Chance sein, sich als professioneller und wertschätzender Arbeitgeber zu präsentieren. Wichtig ist, dass keine falschen Erwartungen erzeugt werden (z.B. Anrede im AC per Du, aber später in der Abteilung wird gesiezt).

  • Kosten senken und Arbeitgeberimage steigern: die Fehlbesetzung einer Führungsfunktion kann mit Kosten zwischen 200.000€ - 300.000€ bzw. dem 1,5 – 2,5-fachen Jahresgehalt beziffert werden. Berücksichtigt werden dabei unter anderem Kosten wie Gehalt, Boni, Produktivitätsverluste sowie erneute Rekrutierungskosten und Einarbeitung.11 Schwieriger zu quantifizieren, aber nicht weniger wichtig, ist der negative Einfluss einer fehlbesetzten Führungsfunktion auf die Unternehmenskultur und die Motivation der Mitarbeitenden. Dies kann sich sehr negativ auf die Attraktivität als Arbeitgeber auswirken – wie folgender, vielzitierter Satz nahelegt: „People join companies and leave bosses“. Jede, durch ein professionelles Auswahlverfahren verhinderte Fehlbesetzung, lohnt sich also!


Fazit

Assessment Center sind ein äußerst wirkungsvolles Instrument zur Personalauswahl, insbesondere in Zeiten des Fachkräfte- und Bewerbermangels. Sie bieten praxisnahe und umfassende Antworten auf wesentliche Herausforderungen der modernen Arbeitswelt. Allerdings ist der Erfolg eines Assessment Centers maßgeblich davon abhängig, wie professionell es konzipiert und durchgeführt wird. Es muss nicht nur den spezifischen Anforderungen der Position gerecht werden, sondern auch kulturell passend gestaltet sein. Wenn Sie ein AC planen, achten Sie darauf, dass die wichtigsten Qualitätskriterien für eignungsdiagnostische Verfahren, wie sie beispielsweise in der DIN 33430 festgelegt sind, berücksichtigt werden. In der Regel ist dabei die Unterstützung durch Experten in der Eignungsdiagnostik, welche DIN 33430 zertifiziert sind, sinnvoll. Nur so kann das volle Potenzial eines Assessment Centers ausgeschöpft werden.

 

Weiterführende Informationen:

www.cornelia-tanzer.de/assessment-center

 

Quellen und Hinweise:
1 Sackett, P. R., Zhang, C., Berry, C. M., & Lievens, F. (2022). Revisiting meta-analytic estimates of validity in personnel selection: Addressing systematic overcorrection for restriction of range. Journal of Applied Psychology, 107(11), 2040–2068. https://doi.org/10.1037/apl0000994
2 https://www.haufe.de/personal/hr-management/studie-im-bewerbungsprozess-mangelt-es-an-augenhoehe_80_587488.html
3 Winkler, R., & Prandstetter, K. (2021). Der Einsatz von Assessment Centern in der Führungskräfteauswahl. Zeitschrift für Arbeits- und Organisationspsychologie.
4 Personalauswahl kompetent gestalten: Grundlagen und Praxis der Eignungsdiagnostik nach DIN 33430. (2017). Germany: Springer Berlin Heidelberg.
5 Weitere Verfahrens(unter-)typen wie Persönlichkeitsfragebögen, Selbst-/Strategiepräsentation; auch Gruppenübungen sind möglich, haben aber hinsichtlich ihrer diagnostischen Güte Einschränkungen
6 S. hierzu auch die genannten Metastudien von Schmidt und Hunter (1998) sowie Sackett et al. (2021)
7 Willkommen beim Personalamagazin. (o. D.). personalmagazin.de. https://www.personalmagazin.de/
8 Die Skala ist mit konkreten Verhaltensbeispielen hinterlegt, sodass der Interpretationsspielraum möglichst gering gehalten wird
9 Sofern die Qualitätskriterien, wie sie beispielsweise in der DIN 33430 definiert sind, erfüllt sind
10 Willkommen beim Personalamagazin. (o. D.). personalmagazin.de. https://www.personalmagazin.de/
11 Hunt, J. M. (2014). Avoid Costly Hiring Mistakes. Harvard Business Review. https://insights.transearch.com/2023/02/10/the-high-costs-of-hiring-the-wrong-leader/

 

Zurück

© 2024. CORNELIA TANZER | Datenschutz | Impressum | Cookie-Einstellungen

You are using an outdated browser. The website may not be displayed correctly. Close