Learning Agility – ein Konstrukt, seine Renaissance und seine Anwendung heute

Learning Agility ist kein neues Konstrukt. Geboren um den Jahrtausendwechsel hielt es Einzug in viele Diskussionen und Konzepte von Praktikern und Praktikerinnen. Diskussionen über die Identifikation von Potenzial erlebten einen Shift: Weg von der Erkennung von Potenzial hauptsächlich über vergangene und aktuelle Performance und Intelligenz, hin zu Learning Agility bzw. der Wachstums- und Lernkompetenz als zentralem Potenzialindikator.

Schon in 2015 war die Learning Agility das am häufigsten genutzte Kriterium zur Messung von Potenzial (62 % der befragten Unternehmen nutzen es, während nur 13 % Intelligenz als Kriterium nutzten).  Auch wenn das Konzept in der Praxis schon lange auf breites Interesse stößt und breite Anwendung findet – lasst uns klären, worüber wir reden:

Learning Agility – was meint das?

Learning Agility meint “the willingness and ability to learn from experience and subsequently apply that learning to perform successfully also under first-time, tough or different conditions” (Lombardo & Eichinger, 2000, p.323). Und hier wird deutlich, es ist mehr als schlicht die Fähigkeit Neues zu lernen, es ist das Wollen und das Können:

  • Die Motivation, Risiken einzugehen, genau dann, wenn man nicht genau weiß, was zu tun ist. Die Motivation sich hineinzubegeben, in eine unbekannte oder mehrdeutige Situation und mit ihr umzugehen oder es zumindest zu versuchen. Und gepaart damit, die Motivation sich Feedback zur eigenen Performance einzuholen, und zwar unabhängig davon, wie selbstwertbedrohlich dieses Feedback auch sein mag. Kurz gesagt: Bei Fehlern und kritischem Feedback nicht in die Defensive zu gehen!
  • Die Fähigkeit, eigene Versuche und eigenes Handeln flexibel und schnell anzupassen, adaptiv auf Feedback und Erfahrungen zu reagieren, Learnings stetig und schnell abzuleiten, immer mit dem Ziel, den Lernprozess weiterzuführen.


Und warum die Renaissance?

Die Komplexität und Unvorhersagbarkeit unserer Arbeitswelt und der Business Cases ist – verstärkt durch die Auswirkungen der Pandemie – beispiellos. Megatrends wie beispielsweise die Neo-Ökologie, Silver Society, New Work, Konnektivität, Sicherheit und Individualisierung sind die größten Treiber des Wandels in Wirtschaft und Gesellschaft, im Kleinen und Kurzfristigen bringen sie disruptiven Wandel, den es zu gestalten und zu bewältigen gilt. Und für jeden Einzelnen bedeutet das Veränderung, vielleicht nicht für jeden disruptive Veränderung, aber ganz sicher Veränderung. Im Kontext unserer Beratung erreichen uns immer wieder Anfragen: „Wie können wir Mitarbeitende auswählen, die den Change in die neuen Technologien mitgehen?“, „Wie können wir Mitarbeitende auswählen, die bereit und fähig sind, unsere gesamte Produkt- und Prozesslandschaft mit KI weiterzuentwickeln?“, „Wie können wir Menschen finden, die fähig und willens sind, sich auf etwas einzustellen, von dem wir selbst noch nicht wissen, was genau es sein wird?“ und so weiter.

Diese Fragen hören wir sicher nicht erst seit gestern, sie häufen sich sogar. Und etwas hat sich eindeutig verändert: Eine Personalauswahl ohne den Blick auf Learning Agility ist kaum noch denkbar.

Wie also Learning Agility messen?

Verschiedene Fragebögen, vor allem basierend auf Selbsteinschätzungen, wurden entwickelt, um Learning Agility zu messen – die meisten von ihnen stammen eher aus dem kommerziellen Umfeld und nicht aus der Wissenschaft. Mit Blick auf die dort verwendeten Skalen wird deutlich: Die Messung des Konstrukts bedient sich in den meisten Fällen einem breiteren Verständnis von Learning Agility. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Konzeptualisierung hinter den Testverfahren, ist natürlich auch die prädiktive Validität mit einem Fragezeichen zu versehen.

Lösen wir uns von einer rein Fragebogen-basierten Messung, können wir für die Praxis aber dennoch gute Ableitungen treffen. Ein umfassendes Modell von DeRue et al. (2012) etabliert ein Verständnis von Learning Agility, welches auch die in Zusammenhang stehenden Konstrukte anschaut. Die allermeisten Aspekte dieses Modells lassen sich multimethodal messen, bspw. über Fragebogen zur Persönlichkeit und kognitive Tests, über Leistungsdaten aus der Praxis, über situative und biografiebezogene Interviews, über simulative Übungen und Wiederholungsübungen mit Zwischenfeedbacks sowie über die Einladung zur Selbstreflexion. Das heißt aber auch: Wenn wir eine valide Aussage über die Learning Agility einer Person treffen möchten, brauchen wir erstens, ein gemeinsames Verständnis darüber, was dies bedeutet, und zweitens, ein Instrument, welches es uns erlaubt, verschiedene Aspekte über die Nutzung verschiedener Methoden abzubilden.

 

Abb.: Modell von DeRue et al. (2012)


Und eines gehört zur Wahrheit auch dazu: Learning Agility als Kompetenz und Potenzialindikator zu messen, ist sinnvoll und gewinnbringend. Studien der letzten fünf Jahre zeigen aber deutlich – die Lernkultur eines Unternehmens hat einen direkten katalysatorischen Effekt. Vor allem in einer agilen und offenen Lernkultur werden Menschen mit hoher Learning Agility diese auch zeigen und gewinnbringend einsetzen; und Menschen mit geringer Learning Agility diese weiterentwickeln und ausbauen. Kurz gesagt: Wer Learning Agility braucht, braucht auch Learning Culture – eine weitere große Aufgabe von Unternehmen heute!


 

Quellen:

Bouland-van Dam, S. I., Oostrom, J. K., & Jansen, P. G. (2022). Development and validation of the leadership learning agility scale. Frontiers in Psychology, 13. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2022.991299

DeRue, D. S., Ashford, S. J., & Myers, C. G. (2012a). Learning Agility: In Search of Conceptual Clarity and
Theoretical Grounding. Industrial and Organizational Psychology, 5(3), 258-279.
https://doi.org/10.1111/j.1754-9434.2012.01444.x

Finkelstein, L. M., Costanza, D. P., & Goodwin, G. F. (2018). Do your high potentials have potential? The
impact of individual differences and designation on leader success. Personnel Psychology, 71(1), 3-
22. https://doi.org/10.1111/peps.12225

Lombardo, M. M., & Eichinger, R. W. (2000). High potentials as high learners. Human Resource
Management, 39, 321-330.

Milani, Roberta & Setti, Ilaria & Argentero, Piergiorgio. (2021). Learning Agility and Talent Management: A Systematic Review and Future Prospects. Consulting Psychology Journal: Practice and Research. 73. 349-371. 10.1037/cpb0000209.

New Talent Management Network. (2015). Potential: Who’s doing what to identify their best?

Die Megatrend-Map. https://www.zukunftsinstitut.de/zukunftsthemen/die-megatrend-map

Saputra, N., Abdinagoro, S. B., & Kuncoro, E. A. (2018). The mediating role of learning agility on the
relationship between work engagement and learning culture. Pertanika Journal of Social Sciences
and Humanities, 26(T), 117-130.

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